Modernisierung der deutschen Infrastruktur: Digitalisierung stellt neue Anforderungen an das Bauingenieurwesen

Die Digitalisierung der Infrastruktur in Deutschland erfordert bedarfsgerecht ausgebildete Fachkräfte – und genau daran mangelt es. Expert*innen aus Wirtschaft und Wissenschaft mahnen, dass sich die Situation in Zukunft noch verschärfen wird und versuchen gleichzeitig, mit flexiblen Ansätzen und marktgerechten Studienangeboten die Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland zu unterstützen. Ein Beispiel dafür ist der Masterstudiengang Bauingenieurwesen des Center for Advanced Studies an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW CAS), der u. a. in Kooperation mit Expert*innen der Deutschen Bahn Studierende praxisgerecht ausbildet.

„Die europaweite Einführung einer digitalen Leit- und Sicherheitstechnik (DLST) ist die Grundlage für die Modernisierung der Bahninfrastruktur“, erläutert Ralph Müller, der bei der DB Netz AG die europäische Standardisierung von digitalen Stellwerken (DSTW) betreibt. Damit das gelingt, muss das Zusammenspiel der Innenanlage und der Außenanlagen des Leit- und Sicherheitstechniksystems neu gedacht werden. Mit der Digitalisierung wird die Steuerungstechnik als „Gehirn“ viel schneller obsolet als die langlebigen Außenanlagen, wie beispielsweise Weichenantriebe, Bahnübergänge oder Lichtsignale.

Aufbau eines neuen Know-how-Ökosystems aus Ingenieurwesen und Informatik

Die Lösung hierfür ist eine modulare Leit- und Sicherheitstechnikarchitektur mit standardisierten Datenschnittstellen, die neue Kompetenzen erfordert: „Im Endeffekt geht es darum, dass wir das klassische Ingenieurwesen mit der Informatik fusionieren müssen, da wir Fachleute brauchen, die sowohl die eine als auch die andere Seite verstehen“, betont Müller. „Hier sehen wir für den Bereich Schiene aktuell eine Kombination von problematischen Faktoren: Klassische Lehrstühle in den Bereichen Bauingenieurwesen, Maschinenbau und Elektrotechnik, die einen spezifischen Bahnbezug haben, werden aufgrund niedriger Absolvent*innenzahlen nicht mehr nachbesetzt, es gibt einfach zu wenige, die diese Fächer wählen. Dabei brauchen wir die Kompetenzen aus diesen Bereichen, um die grüne Verkehrswende mit einer moderneren und leistungsfähigeren Bahn zu erreichen. Gleichzeitig wünschen wir uns bei Absolvent*innen aus dem Bereich Informatik mehr Verständnis für die besonderen Belange des Bahnsystems.”

Müller nennt die EU-Initiative EULYNX als ein Beispiel, das verkörpert, welche Anforderungen die „digitale Schiene” an die Fachleute der Zukunft stellt: Auf Basis des modellbasierten Systemengineerings und ausgehend von DB Netz-Spezifikationen wurden hier von den Bahnen europaweit Standards für die Schnittstellen zwischen der Innenanlage und den Außenanlagen der Leit- und Sicherheitstechnik entwickelt, um die benötigte Modularisierung der Leittechnik-Architektur zu ermöglichen.

Praxisnahe akademische Ausbildung bietet Lösungsansätze

Vor dem Hintergrund dieser komplexen Praxisanforderungen arbeitet das Lehrpersonal am DHBW CAS im Rahmen von dualen, berufsbegleitenden Studiengängen eng mit Unternehmenspartnern, um eine marktorientierte Ausbildung zu ermöglichen. Die Impulse von Experten wie Ralph Müller sind dabei wichtige Leitlinien für die laufende Weiterentwicklung der akademischen Angebote: „Unser Ziel ist es, konform mit dem Markt auszubilden. Das heißt auch, dass wir unser Spektrum anpassen und ändern, wenn das nötig ist“, erklärt Prof. Dr.-Ing. Isabelle Simons, die am DHBW CAS als wissenschaftliche Leiterin für die Masterstudiengänge Bauingenieurwesen und Wirtschaftsingenieurwesen verantwortlich ist.

Das Thema Infrastruktur ist einer von drei Schwerpunkten des Masters Bauingenieurwesen, der von den Studierenden im Rahmen des modular angelegten Studiums gewählt werden kann: „Mit diesem im letzten Jahr gestarteten Programm können wir mit der Schwerpunkt-Säule Infrastruktur explizit für den öffentlichen Sektor eine spezialisierte Bauingenieursausbildung anbieten. Unsere Studierenden arbeiten während des Masterprogramms durchgängig bei ihrem Unternehmen, wie z. B. der Deutschen Bahn, und können individuell für die jeweiligen Praxisbedürfnisse ihre Module zusammenstellen“, so Simons.

Bauingenieurwesen 2.0 gegen Imageproblem

Ihr Kollege Prof. Dr. Jens Bender, der den Bachelor-Studiengang Bauingenieurwesen leitet, weist auf das Imageproblem des klassischen Bauingenieurwesens hin, das zum aktuellen Mangel an Nachwuchs in diesem Bereich beiträgt – und betont gleichzeitig die Chance, die in der Digitalisierung liegt: „In den Köpfen steckt, dass wir es mit einer trockenen Materie zu tun haben. Das Gegenteil ist der Fall, denn gerade die von der Digitalisierung getriebene zunehmende Verzahnung von Informatik und Bauwesen ist ungeheuer spannend. Hier sind wir alle gefordert, entsprechend zu vermitteln, dass das Bauingenieurwesen für unsere Zukunft eine ganz neue Relevanz annimmt.“

Internationale Bewerber*innen füllen deutsche Lücken

Der deutsche Nachwuchsmangel in den MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik führt dazu, dass Unternehmen international rekrutieren: „Zwischen 70 und 80 Prozent der aktuellen Bewerbungen für Praktika oder Nachbesetzungen kommen von außerhalb der EU und dreiviertel davon aus Indien. Deutsche sind im einstelligen Bereich“, berichtet Müller. „Wir sind auf die ausländischen Arbeitskräfte angewiesen und erleichtern den Einstieg, indem wir keine deutschen Sprachkenntnisse für die Einstellung verlangen. Da in internationalen und europäischen Projekten Englisch die Verkehrssprache ist, stellt das kein Problem dar – und wir sehen auch, dass die überwiegende Mehrheit aus eigenem Antrieb zudem Deutsch-Sprachprüfungen ablegt.“

Diese Situation spiegelt sich im akademischen Bereich: „Wenn wir Professorenstellen ausschreiben, sind fast die Hälfte der Bewerberinnen und Bewerber aus dem Ausland“, so Simons. „Daher ist es für uns auch durchaus denkbar, zukünftig ein Kontingent unserer Vorlesungen auf Englisch anzubieten. Im Rahmen unseres dualen Konzepts hätten Studierende aus dem Ausland den Vorteil, dass sie dann direkt in Unternehmen einsteigen und sich so auch deutsche Sprachkenntnisse aneignen können.“

Als Fazit bleibt, dass die Digitalisierung von technischen Systemen in allen Industriesektoren das Bauingenieurwesen in Kombination mit IT für Berufseinsteiger*innen zu einer Zukunftswahl macht – und dass nur auf Basis einer engen und konstruktiven Kooperation zwischen Wirtschaft und akademischen Ausbildungsstätten die bestehenden Know-how-Lücken in der Praxis gefüllt werden können.

 

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